3. Sozialpolitischer Ratschlag

10 Jahre Hartz IV: 2005 – 2015 Versuch einer Bilanz der Agenda 2010: Grundsicherung – Arbeitsmarkt – Prekarisierung- Spaltung der Gesellschaft

„Wer arm ist, erfährt sinkenden Respekt der anderen“
– Wissenschaftler, Gewerkschafter, Politiker, Basisvertreter bei gemeinsamer Spurensuche nach 10 Jahren Agenda 2010 –

Unsere Veranstaltung 3. Sozialpolitischer Ratschlag im Jahr 2015 befasste sich mit 10 Jahre Hartz IV. Wir hatten mit Prof. Klaus Dörre aus Jena einen der besten Kenner und Kritiker der Agenda 2010 – wie auch von Hartz IV – eingeladen. Sein spannender Beitrag in Stuttgart zeigte die Schwächen des Gesetzes deutlich. Die Zugänge zum Arbeitsmarkt nicht wesentlich besser worden. Die Unterstützungshöhen sind nicht stimmig, ebenso ist die gesellschaftliche Diskriminierung der Hartz IV Bezieher weiter gewachsen. Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe hat fatale gesellschaftliche Folgen. Der Respekt vor der Armut und den betroffenen Menschen sinkt.
Klaus Dörre sprach die Diskussion um die Soziale Sicherung bei Erwerbslosigkeit und Armut in der EU an. In der EU erhalten 40 % der Erwerbslosen keine staatlichen Leistungen.

Die auf Klaus Dörre folgenden Einschätzungen und Berichte von fünf aktiven VertreterInnen aus der Landesarmutskonferenz LAK-BW bestätigten im wesentlichen die wissenschaftlichen Untersuchungen von Klaus Dörre. Eine gewisse Überraschung. Alle hatten persönliche Erfahrungen mit dem Hartz-System von unterschiedlicher Dauer: Konsequenz ist gesellschaftlicher Ausschluss, Randgruppendasein, Verfestigung psychisch-physischer Abhängigkeiten und Umsetzung einer Sozialpolitik, die einerseits vorgibt, integrierend zu wirken doch gleichzeitig die gesellschaftliche Isolation und Spaltung zum politischen Ergebnis macht. Not und Leid an vielen Ecken in unserer Gesellschaft: Normalität von Nahrung aus dem Mülleimer, Flaschensammlern, Resteverwertern, Tafelkunden und Bettlern. Besonders die gesundheitlichen Zusatzkosten schlagen zu Buche. Die Verweildauer in Hartz IV wächst und damit auch die Perpetuierung von Ausgrenzung und Ungleichheit. Dem Grunde nach dient der politische Zusammenschluss und Selbstorganisation in der LAK-BW dem sozialen Überleben und schafft die Grundlage für eigene Bündnisse und Plattformen der sozialpolitischen Einmischung.

Nachmittags die Präsenz von politischen Vertretern aus dem Landtag (Grüne, SPD, CDU) und einer Vertreterin der Linkspartei Baden-Württemberg: Thomas Poreski, Rainer Hinderer, Thomas Kunzmann, Jessica Tatti. Die Frage nach den Ursachen für die Agenda 2010 und die Einschätzung nach 10 Jahren Hartz IV interessierte das Publikum. Thomas Poreski äusserte seine frühere Skepsis bis jetziger Ablehnung von Hartz IV, Rainer Hinderer sah nach wie vor Vorteile des Agendaprozesses für den Arbeitsmarkt, Thomas Kunzmann bedankte sich bei Rot-Grün für die Durchsetzung der Agenda 2010 und Jessica Tatti kritisierte die Agenda 2010 als neoliberales Projekt zum sozialen Nachteil der Erwerbslosen, zur dauerhaften Gefährdung von Menschen in Armutslagen und forderte ein Ende dieses Weges. Alternativen seien das bedingungslose Grundeinkommen und ein konsequenter Stopp der Sparpolitik in der EU, in Deutschland und in Baden-Württemberg.

Im Teil 2 des Nachmittages in der Theodor-Heuss-Str. 2 in Stuttgart dann der Auftritt von Leni Breymeier von der Verdi-Gewerkschaft. Unter dem Eindruck des Poststreikes stehend, den Arbeitskampf im Erziehungssektor wie in der Sozialarbeit hinter sich. Es wurde zu einem verbalen Durchmarsch durch alle Fakten, den Alltag und Wechselbäder der Gefühle einer Gewerkschaftsführerin in prekären Zeiten, wo es um den Zusammenhalt von Betrieben und Gewerkschaftsmitgliedern geht, um Informationen nach innen und aussen, um Glaubwürdigkeit von Arbeitnehmerinteressenvertretung. Leni Breymaier eine wahre Heldin der Streiks von 2015 – Symbol eines wachsenden Widerstandes gegen Sozialabbau und Arbeitsplatzgefährungen in einem reichen Bundesland.

Jendrik Scholz vom Landes- DGB zeigte die teils verheerenden Auswirkungen der Arbeitsmarktreformen mit der Schaffung eines stetig wachsenden Niedriglohnsektors, einer Verknappung der Arbeit verteilt auf immer mehr Menschen: Working poor und prekäre Verhältnisse bleiben so an der Tagesordnung. Für Scholz scheint klar zu sein: Gewerkschaftliche Aktionen und Bündnisse mit Sozialen Bewegungen schaffen neue Perspektiven und Druck von unten. Da hat der DGB gut entschieden, diesen Perspektivenwechsel zu vollziehen und gemeinsame Wege zu gehen. Da finden DGB und Landesarmuts-konferenz LAK-BW problemlos zusammen.
Roland Saurer

3. Sozialpolitischer Ratschlag (Programm)

3. Sozialpolitischer Ratschlag (Pressemeldung)

10 Jahre Hartz IV – Ein Erfahrungsbericht

http://swrmediathek.de/player.htm?show=9bd67ab0-2736-11e5-b797-0026b975f2e6

10.07.15 Bewährungsproben_LAK-BW_Stuttgart (pdf)

10.07.15 Bewährungsproben_LAK-BW_Stuttgart

LAK Beitrag Doris Kölz

https://drive.google.com/file/d/0BzzmRipc9RInNnpWQjhkd1Q5Rm1OSk1GMHV0TU03NWh6eWtR/view?pli=1

LAK-Bericht Eberhard Knoblich (10.07.2015)