„Armut bedroht immer noch alle“
– 20 Jahre Aktionswoche 2004-2024 –
Vertrauen in den Erhalt des Sozialstaates – Utopie oder Realität?
- Der Weg zur Aktionswoche
Wir begehen dieses Jahr die 20. Aktionswoche „Armut bedroht alle“. Wir nennen sie dieses Jahr: „Armut bedroht immer noch alle“. Im Untertitel nennen wir sie dieses Jahr: 20 Jahre Einsatz für soziale Gerechtigkeit.
Gibt es da was zu feiern, oder ist das eher ein Jahr des Innehaltens? Ein Jahr, um Bilanz zu ziehen? Ein Jahr der Entscheidung weiterzumachen oder gar aufzuhören?
Wir besitzen eine Vision, den Traum von einer gerechten Welt. Das treibt uns weiter!
Als wir uns – #von unten – im Jahr 2004 dazu entschieden, harten Wiederstand gegen die Agenda 2010 konsequent auszubauen, da ahnte doch niemand, dass man das 20 Jahre später immer noch müsste. Es ist der „Kampf der Machtlosen“ gegen ein System, das die Deklassierung und die Position der Randgruppe für viele offen hält.
2. Art 20 GG – Die Verankerung des Sozialstaates
In Artikel 20 GG heißt es: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Daraus leitet sich ab, dass es einen sog. Sozialstaat gibt. Dieser sichert das soziokulturelle Existenzminimum.
Die beiden Soziologen in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, Claus Offe und Ulrich Beck, haben analysiert und beschrieben, was Sache ist. Der eine, Claus Offe nannte den Zustand des Sozialen in Deutschland eine „Sozialstaatsillusion“. Der andere, Ulrich Beck, analysierte den Trend der Gesellschaft zur „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“.
Unter dem Strich bedeutet das bei Claus Offe und Ulrich Beck, dass der Versuch allgemeine Gerechtigkeit für alle herzustellen, eine Illusion sein dürfte.
In Deutschland verhungert zwar niemand mehr, da leben aber viele von der Hand in den Mund, z.B. die Alleinerziehenden. Da leben Menschen von Flaschensammeln, von Tafelläden abgrasen, von Zuflucht in Wärmestuben und Notunterkünfte.
3. Die Agenda 2010
Zudem sollte um 2000 Deutschland nicht länger als der „Kranke Mann Europas“ gelten. Unter dem Einfluss aus den USA mit Ronald Reagan und der Engländerin Maggy Thatcher, galt der Kurs der Ökonomien im Westen dem
– Ausbau der Globalisierung
– der Überlassung vieler Lebensbereiche dem Markt
– einer rigorosen Absenkung der Staatsquote
– der Fortsetzung des Neokolonialismus
– Testgelände der USA war dafür das Chile des Diktators Augusto Pinochet
Das Neoliberale Regime der Agenda 2010 des Gerhard Schröder kannte keine roten Linien. Alles schien unter dem Vorwand des Ökonomischen, des Globalen, dem Ost-West-Gegensatz, des Neokolonialismus legitim zu sein.
Besonderes politisches Produkt war Hartz IV, also die neue Grundsicherung, die die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe ab dem Jan. 2005 ablöste. Ein bürokratisches Monstrum, das bis zum heutigen Tag seine Herrschaft ausübt. Eine Reform des Hartz IV ist gescheitert, die Armutspolitik setzt sich mit dem Bürgergeld rasant fort.
4. Der Markt regelt das – ein fundamentaler Irrtum
Der Irrglaube, dass die Märkte alles regeln werden, diesen Glauben hat man nach der Pandemie und den neuen Kriegen, dem in der Ukraine und jetzt dem Krieg im Nahen Osten aufgegeben. Der Markt funktioniert nur, wenn die Rahmenbedingungen gesellschaftlich funktionieren: Die Infrastruktur, die Bildung, die Gesundheit, das Wohnen, die Sicherheit.
5. Die Vernichtung der Natur – ein Schrecken ohne Ende
Was hinzukommt, ist der Zustand der Natur, lokal, weltweit, auf dem ganzen Planeten.
Da lebt die Menschheit über ihre Verhältnisse. Dies betrifft die Menschheit als Ganzes, also die Bedrohung für alle. Das ist die zweite Bedrohung.
Wir haben als erste Bedrohung 2004 formuliert, „die Armut bedroht alle“, wir müssten jetzt als zweite 2024 formulieren, „Die kranke, die teils sterbende Natur, bedroht alle“.
6. Bilanz der Überlegungen – Glaube an das Leben
Wir sind gestartet mit Claus Offe und Ulrich Beck, mit deren Analysen und Prognosen. Wir haben die Agenda 2010 als einen massiven Angriff auf den Sozialstaat, auf die soziale Gerechtigkeit erlebt. Da sollte es nur um Chancengerechtigkeit gehen, nicht um soziale Gerechtigkeit für alle.
Die Rettung des Sozialstaates nach Artikel 20 des Grundgesetzes treibt uns weiter. Wir sind überzeugt, dass wir den Sozialstaat erhalten, wenn wir dafür streiten. Dafür brauchen wir eine eigene Stimme, jetzt und dauerhaft.
7. Baden-Württemberg: eine Synthese von Erfahrung, Geschichte und Gegenwart
In den ihnen zugegangenen 11 Stufen der Chronologie der beiden Jahrzehnte finden sich die Ziele und Themen der Aktionswochen von 2004-2024.
Wir haben in Baden-Württemberg die Chance, ein Bündnis williger Reformer in Politik, Verbänden, Unternehmen, Kirchen und Gewerkschaften sowie in der Zivilgesellschaft zu schaffen, auch Lehre und Forschung einzubinden. Diesem Bündnis gehören Organisationen wie die Gemeinsame Landesarmutskonferenz Baden-Württemberg selbstverständlich an.
In der „Langen Nacht der Demokratie“ zum 03. Oktober haben wir uns in der Landesarmutskonferenz bis in die tiefe Nacht mit der „Menschenrechtsfrage in der zerbrechlichen Demokratie“ beschäftigt. Darunter mit den „13 Forderungen des Volkes“ im Offenburger Salmen im September 1847. Also vor 177 Jahren.
Diese 13 Forderungen sind eine Vision von mehr Gerechtigkeit, Demokratie, von Volksherrschaft, von Bildung und dem Ende der Standesprivilegien. Lasst uns in den Aktionswochen 2004-2024 auch ein Stück dieser Vision sehen. Der Vision von einem besseren Leben, einem Mehr an Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit und internationaler Solidarität.
Roland Saurer – lak-bw e.V.