Dieser Artikel stammt aus der Stuttgarter Zeitung vom 12.04.2024. Der Verfasser dieses Beitrags ist Jan Sellner.
Vor ihrer Fahrt nach Stuttgart wurde Daniela Gress aus Heidelberg von Unbekannt dezent darauf hingewiesen, dass hier ja die Roma im Schlossgarten nächtigen würden. Es klang wie ein Warnhinweis, der bei der Wissenschaftlerin Kopfschütteln auslöst, wie sie jetzt bei einem Europäischen Symposium zur Geschichte der Roma und Sinti im Lern- und Erinnerungsort Hotel Silber berichtete.
Diese Warnung passt ins Bild. Gress, die an der Forschungsstelle Antiziganismus der Uni Heidelberg arbeitet, spricht von einem „erschreckenden Stigma“, das den Roma anhafte. Die Menschen sähen sich bis heute Vorurteilen ausgesetzt – in Deutschland und anderswo in Europa. Ihr bitterer Befund: „Das ist tief in der europäischen Kulturgeschichte verankert. Die Vorurteile gegenüber den Roma und den Sinti liegen in der europäischen DNA.“ Die Kulturanthropologin und Romani-Aktivistin Joanna Talewicz und der Romani-Wissenschaftler Iulius Rostas bestätigen diesen Eindruck. Die drei gestalteten am Mittwoch den Auftakt der Veranstaltungsreihe „Romani Voices – Sinti/Roma/Stimmen“ im Nachklang zum internationalen Roma-Tag am 8. April.
Der Roma-Widerstand gegen die Nazis ist wenig bekannt
Der von Tim Müller vom Landesverband der Sinti und Roma souverän moderierte Abend diente dazu, dem Nichtwissen über die in ganz Europa lebende Minderheitengruppen entgegen zu wirken und ihre Sichtbarkeit zu stärken. Es ist also ein Abend des Lernens und des sich Zeigens – ausgehend von der Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Joanna Talewicz hat sich intensiv damit beschäftigt, auch mit dem wenig wahrgenommenen Widerstand der Sinti und Roma im sogenannten Zigeunerlager in Auschwitz-Birkenau. Er kreist um das Datum des 16. Mai 1944 und den Widerstand der dort internierten Sinti und Roma gegen ihre geplante Ermordung.
4300 Menschen des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz wurden ermordet
Die Quellenlage ist dünn und der Tag wissenschaftlich daher nicht bestätigt. Der 16. Mai sei vor allem ein „symbolisches Datum“, das auch identitätsstiftenden Charakter habe, betonen Talewicz und Rostas. Der Vernichtung entgingen die Menschen im „Zigeunerlager“ dennoch nicht. Die Kulturantrophologin nennt es „bezeichnend“, dass es bis zum Jahr 2018 gedauert habe, um festzustellen, dass bei der „Liquidierung“ des Lagers am 2. August 1944 nicht 3000, wie ursprünglich angenommen, sondern rund 4300 Sinti und Roma ermordet wurden.
Gress spricht von einer „jahrzehntelange Ignoranz des Völkermordes“. Sie spiegle sich auch in den lange vergeblichen Bemühungen von Überlebenden um Entschädigungen und die Nicht-Wahrnehmung ihrer Interessensvertretungen, die sich nach dem Krieg in München und Mannheim gründeten – anfangs noch mit der Bezeichnung „Zigeuner“. Seit 1971 lautet ihre Selbstbezeichnung Sinti und Roma. Erst 1982 erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt den NS-Völkermord an ihnen an. In jenem Jahr wurde auch der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gegründet.
Zahlen und Fakten sind das eine. Gleichzeitig versuchen die Forscher, den Roma und Sinti, deren Vorfahren aus Indien und Pakistan stammen, ein Gesicht zu geben. Zumal der Widerstand gegen die Nazis bedeutende Persönlichkeiten hervorgebracht hat: Alfreda Markowska, etwa, die als einzige aus ihrer 80-köpfigen Community überlebte und 50 jüdische und Roma-Kinder retten half. Oder Edward Paczkowski, der als Zwölfjähriger zusammen mit Partisanen versuchte, einen deutschen Panzer zu stoppen und der Auschwitz, Bergen-Belsen und Buchenwald überlebte. Oder die jüngst verstorbene Elisabeth Guttenberger, die im Frankfurter-Auschwitz-Prozess als Zeugin aussagte. Oder Johnan Trollmann, einen bekannten Boxer, der sich den Nazis widersetzte. Oder die Brüder Oskar und Vinzenz Rose, die nach dem Krieg Anzeigen gegen NS-Täter anstrengten. Oskar Rose ist der Vater des heutigen Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose. 13 Familienmitglieder der Roses wurden Opfer des Porajmos, wie die Roma den Völkermord nennen.
Der Antiziganismus bleibt ein großes Problem
Und wie steht es um ihre Anerkennung heute? Gress sieht durchaus Fortschritte, etwa durch den 2013 zwischen dem Land Baden-Württemberg und dem Landesverband der Sinti und Roma abgeschlossenen Staatsvertrag. Das Thema Antiziganismus habe sich zuletzt jedoch eher wieder verstärkt. Davon betroffen seien auch Roma, die vor dem russischen Angriffskrieg aus der Ukraine geflohen seien. Aus Sicht von Iulius Rostas verstärken sozialen Medien die herrschenden Vorurteile noch. In Stuttgart versuchen der Landesverband der Sinti und Roma gemeinsam mit dem Lern- und Gedenkort Hotel Silber und dem Stadtjugendring, die Minderheiten stärker ins Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft zu bringen. Im Juni setzen sie ihre Roma-Reihe fort.
Autor: Jan Sellner
Quelle: Stuttgarter Zeitung vom 12.04.2024