Stellungnahme der Lsndesarmutskonferenz Baden-Württemberg zum BVerfG-Urteil bezügl. Hartz-IV – Sanktionen

Pressemitteilung:

Die betroffenen Hartz-IV-Leistungsbezieher haben es schon fast nicht mehr geglaubt, dass in dieser Angelegenheit noch ein Urteil des BVerfG kommt. Der Gesetzgeber hat diese Sanktionsmaschine bequem vor sich hergeschoben.
Wie war das noch bei der Bankenrettung ? Hat da die Regierung auch so lange gezögert ?


Hier ging es doch um viele Milliarden Euro und mit der Schnelligkeit einer Rakete wurde
gehandelt!
2010 gab es das erste große Urteil des BVerfG zum Komplex der Sozialleistungen. Es wurde erstmals klar und deutlich entschieden, dass die Sozialleistungen vom Staat nicht mit Arbeitspflichten gekoppelt werden können, es muss neben dem materiellen Existenzminimum auch noch das soziokulturelle Existenzminimum garantiert werden.
Allerdings ging es damals vordringlich darum, die Ermittlung des Regelsatzes, aber nicht die Grenzen der gesamten Sozialleistung zu beeinflussen. Dem Gesetzgeber wird grundsätzlich attestiert, dass er in der Gesetzgebung seine Gestaltungsmöglichkeiten ausschöpfen kann.

So ist es auch diesmal wieder geschehen. Ausgangslage war ein Klagefall vor dem SG-Gotha, das von diesem Gericht im Normenkontrollverfahren an das BVerfG weitergeleitet wurde.
Die neuesten Entscheidungsgrundlagen betreffen daher auch nur wieder das enge Verhältnis um diesen Einzelfall.
Zwischen 2010 und 2019 hat sich ja einiges getan : Das betr. Gesetz wurde wiederholt verändert bzw. verschärft, die Ausgestaltung der Sanktionen wurde zunehmend „automatisiert“.
Damit die Kritik nicht zu vehement ausfällt, wurde in Randbereichen manches vereinfacht, anscheinend verbessert.
Die Tragweite dieser Praxis wurde immer wieder verharmlost, es seien doch nur knapp 3 % aller Betroffenen, die sanktioniert werden, aber in Wirklichkeit sind es rund 8 %.
Außerdem wurde immer wieder ein Menschenbild vom „HARTZER“ projiziert, dass der nun mal mit angeborener Mentalität nur mit abgestufter Härte zur besseren Einsicht und zum Verlassen seiner Langzeitarbeitslosigkeitsperspektive gezwungen werden kann.

Die verheerenden materiellen und psychischen Folgen wurden ständig bagatellisiert,
Depressionen, massive Verschuldung, Verlust der Wohnung, Hunger und Zukunftsängste wurden fast völlig ignoriert.
Über die besonders scharfen Sanktionsregelungen für die unter 25-jährigen waren die
Politik-Hardliner und die Sensationspresse besonders begeistert.
Wer als Obdachloser, Patient in der Psychiatrie oder im Strafvollzug vollends abrutschte, nahm man als kleineres Übel in Kauf.
Die Arbeitslosen sind weiterhin der wirtschaftlichen Willkür ausgesetzt. Da jede Arbeit
akzeptiert werden muss, wachsen die Leiharbeitsfirmen weiterhin wie die Pilze aus dem
Boden. Auch die Werksverträge werden gesetzwidrig umgesetzt. Die „Aufstocker“ am
Arbeitsmarkt tragen zur kostengünstigen Subventionierung gering entlohnter Arbeit bei, der Niedriglohnsektor wurde kontinuierlich ausgebaut und umfasst mittlerweile ca.23 %.

Würden wie in Österreich ca. 95-98% aller Arbeitsplätze unter einen vernünftigen Tarif-
vertrag gestellt, könnte Deutschland u.U. auch auf den Mindestlohn verzichten.
Ein Recht auf individuell angemessener, qualitativer Fortbildung wurde oft diskutiert, aber immer wieder eingespart, die „billigen Maßnahmen“ haben weiterhin Konjunktur.
Das BVerfG hat nun festgestellt, dass alles andere als 30 % Kürzung der Leistungen verfassungswidrig sei. Eine Übergangsregelung wurde angeordnet, aber für eine Neuregelung hat man dem Gesetzgeber keine Frist gesetzt.

Das Gericht hat zwar eingesehen, dass Sanktionen mit mehr als 30% kontraproduktiv sein können, aber ansonsten diese Maßnahmen mit der Menschenwürde vereinbar sein können ( Art. 1 GG ).
Ob diese 30%-Regelung sich auch noch auf die anderen Leistungen auswirken, wurde nicht geklärt.
Auch ob dies ab jetzt auch für die unter 25-jährigen gilt, wird ebenfalls übersehen.
Ausnahmen, Härtefälle ( z.B. gesundheitliche Einschränkungen ) und Ermessensentscheidungen sollen stärker beachtet werden.
Bundesminister H.Heil und BA-Chef Scheefe haben schon angedeutet, dass sie dies
berücksichtigen werden.
Da bleibt nur noch die zarte Hoffnung, dass jetzt vielleicht Vernunft einkehrt und im neuen Gesetz alles besser organisiert wird.
Im 70.Jahr des Grundgesetzjubiläumsjahr wäre der Wunsch angebracht, dass man die
Spaltung der Gesellschaft nicht hinnimmt, sondern die Einsicht wächst, dass Armut auch Armut an Demokratie ist, der Sozialstaat soll kein Schicksalskorrektorat darstellen.
Bedenken und Entsetzen wachsen aber nur, wenn Gewalttaten und die Wahlerfolge der
Rechtspopulisten und Extremisten zunehmen.

Wie das soziokulturelle Existenzminimum gewährleistet werden kann, da gibt’s Schweigen im Blätterwald. Für die Demokratie ist es besonders systemrelevant, wie der Sozialstaat mit den Arbeitslosen und Prekarisierten umgeht.
Wie die weiterhin auseinander strebende Schere der Einkommens-und Vermögensverhältnisse in den Griff genommen werden könnte, steht weiterhin in den Sternen.

Bft., anno domini 11.11.19, Verf. : Jo Riedinger ( LAK-BW )