Am 17. Februar 2017 fand in der Pauluskirche Schwenningen ein Vortrag zum Thema Vesperkirchen als Zeichen gesellschaftlicher Herausforderung unserer Zeit statt. Als Referent wurde der langjährige Leiter der Wohnungslosenhilfe Offenburg und Sprecher der Landesarmutskonferenz Baden-Württemberg Roland Saurer eingeladen.
In der Begrüßungsrede ging die Moderatorin Frau Karin Ott (Pfarrerin der Pauluskirche) auf das Gespenst der neuen Armut ein, welches die Gesellschaft erfasst hat. Überall begegnet man Menschen in prekären Verhältnissen, mit Niedriglohnjobs, Hartz IV und anderen Lebenslagen in Armut. Die Menschen können teilweise ihre Miete nicht bezahlen verlieren dadurch ihre Wohnung, ihr soziales Umfeld,… und haben keine Lebensperspektive.
„Die Vesperkirche begleitet uns mittlerweile seit 1995 und wurde über eine Generation hinweg im sozialen Umfeld der Städte zu einer festen Adresse. Essen, medizinische Versorgung, Ruhe, Gespräche, Haare schneiden, Berufsberatung und eine Spielecke für Kinder: Menschen finden in der Vesperkirche, was sie zum Leben brauchen.“ In der Zwischenzeit gibt es in Baden-Württemberg 30 Vesperkirchen – in der Regel getragen von Spenden durch die verschiedenen Sponsoren und der Bevölkerung.
Auch Roland Saurer ging auf diese Armutslebenslagen ein: „GemeinsamAnEinemTisch“ – unter diesem Motto laden 30 Vesperkirchen in Baden-Württemberg jedes Jahr zu einem gemütlichen, respektvollen und von Toleranz geprägten Umgang die Menschen ein, welche von Armut und Ausgrenzung betroffen sind. Es ist jeder herzlich willkommen: jung und alt, arm und reich, die unterschiedlichsten Religionen. Hier wird keinerlei Unterschied gemacht.
Natürlich ist die Vesperkirche in erster Linie für die Bevölkerung da, die sich nicht täglich ein warmes Mittagessen, einen Friseurbesuch oder ähnliches leisten können. Die Vesperkirchen sind aber auch auf Spenden angewiesen. Deshalb sind auch Menschen mit größerem Geldbeutel unter ihnen gern gesehene Gäste. Sie spenden das Geld welches gebraucht wird um die Vesperkirche am Leben zu erhalten. Große Lebensmittelkonzerne spenden Lebensmittel in größeren Mengen damit die Menschen ein warmes Mittagessen bekommen, Kaffee trinken und Kuchen essen können. All dies wird von rund 5000 ehrenamtlichen Helfern geleistet, Ärzte, Friseure, Erzieher, Seelsorger stellen immer wieder kostenlos ihre Arbeitskraft zur Verfügung. Ihnen genügt ein „Danke schön“ als Lohn. Die Zahl der Besucher ist etwa dreimal so groß: zwischen 12000 und 15000 Essen pro Kirche werden jährlich in den 4 Wochen der Vesperkirchenzeit ausgegeben. In Schwenningen sind es ca. 250 -350 Essen pro Tag, in Pforzheim sind es schon seit Jahren immer 500 – 600 Essen am Tag. Die letzten Zahlen liegen laut Pressebericht in Pforzheim bei 14000 Essen innerhalb von 4 Wochen.
Die Diakonie will Armut und Ausgrenzung nicht hinnehmen und politisch ein Zeichen setzen: Durch Pressegespräche, Veranstaltungen und andere Aktionen. Sie, als Diakonie, schließen sich Bündnissen und Initiativen an um gemeinsam Aktionen vor Ort ins Leben zu rufen und um ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen einzubringen. Sie wollen als Diakonie die Politiker darauf aufmerksam machen woran unsere Gesellschaft erkrankt ist. Nur: Unsere Kommunal- und Landespolitiker interessiert dies nicht, wie eine Befragung der Politiker durch die Vesperkirche Stuttgart in Zusammenarbeit mit der Neuen Arbeit Stuttgart ergab. Sie haben zwar „in einem früheren Leben“ mal gehört dass es Armut gibt, aber einen direkten Kontakt zu Menschen die gestrauchelt sind und Pech in ihrem Leben hatten gab es in den wenigsten Fällen. Sie wollen ihn auch nicht. Für Politiker ist dies Ein großer gesellschaftlicher Graben unüberbrückbar. Sie setzen lieber auf Armutsbekämpfung, haben aber keine geeignete Strategie oder Konzept um die Armut wirksam zu bekämpfen. Politik und Menschen mit Armutserfahrung sprechen zwei verschiedene Sprachen und leben in zwei verschiedenen Welten. Deshalb gehen auch viele nicht mehr zur Wahl.
Aus diesem Grund ist es auch wichtig dass die Vesperkirchen sich einer Organisation wie der Landesarmutskonferenz Baden-Württemberg anschließen. Damit können sie ihrer politischen Arbeit noch mehr Nachdruck verleihen. Dieser Vorschlag wurde im Anschluss an Rolands Referat von den Organisatoren und Besuchern in einer Diskussion begrüßt.
Der Geist der Vesperkirche ist schon in der Bibel verankert. In Jesaia 1,17 (Psalm 82) heißt es „Verschafft Recht den Unterdrückten und Waisen und helft den Gebeugten und Bedürftigen zum Recht“. Wenn man sich das komplette Vermögen unseres Staates anschaut und näher betrachtet ist für jeden genug da. Leider scheitert dieses „Es ist genug… – Genug für alle“, so das Motto der letzten Aktionswoche gegen Armut, aber an der Realität, weil das Vermögen in unserer Gesellschaft ungleich verteilt ist. Rund zwei Prozent der Bevölkerung verfüge in Deutschland über rund 50 Prozent allen Besitzes. In der Verteilung glichen solche Zahlen jenen von Entwicklungsländern – ein offenbar weltweit gesellschaftsspaltender Trend mit immer mehr Superreichen und immer größer werdender Armut scheint auch in Deutschland Fuß zu fassen. Am anderen Ende der Besitzskala in Deutschland seien inzwischen drei Prozent der Bevölkerung in größter Armut; rund ein Viertel der Bevölkerung lebe in prekären Verhältnissen, so Roland.
Armut versteckt sich ist ein Schlagwort unserer Gesellschaft. Man sieht es den Menschen nicht an mit wie viel Geld sie über die Runden kommen müssen. Viele Menschen ziehen sich deshalb auch adrett an wenn sie die Vesperkirche besuchen.
Um dieses Manko der Armutsverdrängung in unserer Gesellschaft zu begegnen schlug Roland vor ein Forschungsprojekt ins Leben zu rufen. In diesem Projekt soll man versuchen die einzelnen Lebenslagen der Besucher von Vesperkirchen zu erfassen. Dies erweist sich aber als recht schwierig, weil nicht jeder Besucher anonymisierte Fragebogen ausfüllen will. Und um „narrative Interviews“ zu führen bedarf es einer großen Vertrauenslage zwischen den Gesprächspartnern.
Was passiert nach der Vesperkirchenzeit? Das Jahr hat ja nicht nur 4 Wochen, sondern weitere 48 Wochen in denen die Vesperkirchen nicht geöffnet haben. Werden in dieser Zeit die Armen und Bedürftigen allein gelassen? In Schwenningen und Pforzheim ist dies nicht so. In Schwenningen gibt es die Vesperkirche plus, in denen Bedürftige Essen und Betreuung erhalten; in Pforzheim öffnet die Suppenküche dreimal die Woche.
„Nun schon im dritten Jahr gibt es in der Friedenskirche eine Fortsetzung der Vesperkirche an jedem letzten Samstag im Monat, von Februar bis November. Und es wird gerne angenommen. Gemeinsam an einem Tisch, mit leckerem Essen aus der Küche des Franziskusheims, mit Kaffee und Kuchen, mit ehrenamtlichen Mitarbeitenden, die mit Liebe und Fantasie in einer Kirche ihre Gäste verwöhnen möchten. Und natürlich auch mit dem Angebot der Seelsorge und einem geistlichen Impuls.“
http://www.emk-schwenningen.de/Vesperkirche_Plus_2016.pdf
http://www.pz-news.de/pforzheim_artikel,-Viele-Saeulen-stuetzen-die-Vesperkirche-_arid,1149424.html
Blick über den Tellerrand hinaus