Seit August 2016 gilt nach dutzenden Abänderungen wieder eine neue Version des Hartz IV- Gesetzespakets. Offiziell ist es die 9. Fassung. Angekündigt waren Vereinfachung, Entbürokratisierung und Verbesserung. Ein Interview über die Realität mit Martin Künkler, Arbeitsmarktpolitiker beim DGB
ver.di publik – Hat die neue Version des Hartz IV-Gesetzes mehr Vor- oder Nachteile für die Hartz IV-Empfänger gebracht?
Martin Künkler – Die Nachteile überwiegen ganz klar. Die Leistungen wurden gekürzt, die Rechte weiter abgebaut. Die neue Version des Hartz IV-Pakets ist Schwindel, gemessen an den Versprechungen der Bundesregierung.
ver.di publik – Welche Nachteile sind das?
Künkler – Große Verlierer sind die sogenannten Aufstocker, also die Berufstätigen, die für ihre Arbeit so wenig Lohn bekommen, dass sie zusätzlich Anrecht auf Arbeitslosengeld II haben. Ihnen wurde die Pauschale für Werbungskosten von 15,33 Euro pro Monat ersatzlos gestrichen – eine Summe, die bei niedrigen Einkommen keine Kleinigkeit ist. Der zweite Nachteil für sie: Ihr Freibetrag, also der Teil ihres Einkommens, den sie bisher anrechnungsfrei behalten durften, kann unter den Tisch fallen, wenn der Hartz IV-Bescheid nur vorläufig ist. Dabei geht es um bis zu 230 Euro im Monat. Die werden erst nach einem halben Jahr nachgezahlt, wenn dann der endgültige Bescheid vorliegt. Und noch eine wesentliche Verschlechterung, die diesmal jedoch alle betrifft: Die Kommunen dürfen jetzt eine Gesamtobergrenze für die Wohnkosten der Hartz IV-Bezieher festlegen, einschließlich der Heizkosten. Damit entfällt die Einzelfallprüfung bei relativ hohen Heizkosten und die Gefahr besteht, dass die Betroffenen auf einem Teil der Heizkosten sitzenbleiben.
ver.di publik – Wurden noch weitere Rechte eingeschränkt?
Künkler – Ja, gravierend ist auch folgende Änderung: Wenn das Jobcenter bei der Berechnung Fehler macht und jemandem zu wenig Geld bewilligt, hat der einen Anspruch auf Nachzahlung, das ist logisch. Bisher konnte man diese Nachzahlung auch noch für das vergangene Kalenderjahr durchsetzen, jetzt aber nur noch für die Zeit nach der entsprechenden Gerichtsentscheidung. Das kann auch nur für eine einzige Woche sein – statt für die gesamte Zeit, in der zu wenig gezahlt wurde. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Der Fehler wird nicht wirklich korrigiert.
ver.di publik – Mit welcher Begründung?
Künkler – Das soll weniger Arbeit für die Jobcenter bedeuten. Die Beschäftigten dort sind oft überlastet, das stimmt, aber die Regierung wäre in dieser Situation in der Pflicht gewesen, die Jobcenter personell so auszustatten, dass sie gut arbeiten können. Diese Chance ist vertan worden.
ver.di publik – Bessert das veränderte Gesetz denn die Situation für die Beschäftigten der Jobcenter?
Künkler – Nein, ihre Arbeit wird nicht einfacher. Und das ist nicht nur unsere Sicht als Gewerkschaft, so urteilen auch die Personalräte der Jobcenter. Sie stellen keine Vereinfachungen fest. Beide Seiten – die Beschäftigten der Jobcenter und die Hartz IV-Empfänger – sind sich darin einig und sagen: Das neue Gesetz bringt keine relevanten Verbesserungen. Darauf hätte die Politik reagieren müssen. Das hat sie aber nicht.
ver.di publik – Finden sich in dem veränderten Gesetz überhaupt irgendwo Verbesserungen?
Künkler – Die Hartz IV-Bescheide gelten jetzt nicht mehr nur für ein halbes, sondern gleich für ein ganzes Jahr. Das ist gut, aber es nutzt nur denjenigen unter den sogenannten Aufstockern, bei denen sich das Einkommen nicht ständig verändert. Viele Solo-Selbstständige mit schwankendem Einkommen, zum Beispiel im Journalismus und in der Kunst, profitieren davon nicht.
ver.di publik – Hat sich durch das Gesetz für die jungen Leute etwas geändert?
Künkler – Die SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles hatte Verbesserungen bei den Sanktionen für Betroffene unter 25 in Aussicht gestellt. Das ist am Widerstand der CSU gescheitert; die Sanktionen gelten unverändert. Nach dem ersten sogenannten Fehlverhalten eines Hartz IV-Empfängers unter 25 wird die Leistung gestrichen, nur noch die Miete wird bezahlt. Das Geld für alles andere fällt weg – sozialpolitisch ist das unvertretbar. Menschlich auch.
ver.di publik – Ab Januar 2017 folgt sehr wahrscheinlich eine weitere Neuerung: Die Hartz IV-Sätze steigen, im Schnitt um 5 Euro pro Monat. Was bedeutet das?
Künkler – Nichts Gutes. Der Bundesrat wird dem neuen Regelbedarfsermittlungsgesetz, wie es offiziell heißt, wohl zustimmen. Auch damit wird eine Chance auf positive Veränderungen vertan. Die Erhöhungen sind viel zu gering, um die Armut zu bekämpfen. Armut wird stattdessen weiter zementiert. Die Aufgabe für den Gesetzgeber wäre gewesen, neu zu ermitteln, was die Menschen zum Leben brauchen. Doch die Große Koalition hat einfach das Berechnungsverfahren von 2011 wiederholt. Damit die Zahlen auch ja nicht zu hoch ausfallen, wurden abermals viele einzelne Positionen als überflüssig ganz weggestrichen.
ver.di publik – Welche?
Künkler – Den Weihnachtsbaum zum Beispiel, Ausgaben für den Garten oder einen Blumentopf, Tierfutter, ja sogar Stifte und Bastelbedarf für Schulkinder. Es ging nur darum, dass am Ende ein niedriger Wert steht. Das ist gelungen. Damit wird zugleich ein immenser Druck auf die Menschen in Beschäftigung ausgeübt, denn Not macht erpressbar: Wenn mein Arbeitsplatz bedroht ist und Hartz IV droht, akzeptiere ich auch schlechte Arbeitsbedingungen, um meinen Job zu behalten.
ver.di publik – Was fordert der DGB?
Künkler – Die Regelsätze müssen steigen. Sie sind ein Skandal, gerade für Kinder und Jugendliche. Es geht ja nicht nur um ihre materielle Unterversorgung, um puren Mangel, es werden ihnen auch Entwicklungschancen genommen. Die Summen sind auf der Basis von unhaltbaren Berechnungen festgelegt worden, so flossen die Zahlen von gerade mal zwölf Haushalten in die Kosten für die Mobilität von Jugendlichen ein. Es hätte jetzt die Chance bestanden, Sätze zu ermitteln, die dem realen Leben und dem Bedarf entsprechen. Aber das war politisch offenbar nicht gewollt. Die Kritik von Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden muss also noch lauter werden. Dass sich Betroffene organisieren, um für ihre Rechte einzutreten, ist notwendig.