Kooperationstreffen Vier – Länder „Prekarität ist überall!“ am 21. Oktober 2016 in Konstanz

„Prekarität ist überall!“

Am 21. Oktober 2016 lud die Landesarmutskonferenz Baden-european-flagWürttemberg ihre europäischen Kooperationspartner aus der Schweiz (Allianz gegen Sozialapartheid, Basel),  Österreich (Vorarlberger Armutskonferenz, Bregenz) und Frankreich (Maison de Citoyennette Mondiale, Mulhouse) zu einem Vier-Länder Treffen in das Petrus- und Paulus Gemeindehaus nach Konstanz ein. Das Treffen stand unter dem Motto „Prekarität ist überall!“. Dies stellte der französische Soziologe Pierre Bourdieu schon vor 20 Jahren fest als er im Dezember 1997 in Grenoble sein Buch „Das Elend der Welt“ vorstellte. „Im privaten und im öffentlichen Sektor wo sich die Zahl der befristeten Beschäftigung vervielfacht hat. Beinahe überall hat sie Wirkung gezeigt, die im Extremfall die Arbeitslosigkeit begründen.“ Das Buch ist Grundlage für die wissenschaftliche Prekarität.

„Eine soziale Klasse läßt sich niemals allein aus ihrer Lage und Stellung innerhalb einer gesellschaftlichen Struktur, d.h. aus den Beziehungen bestimmen, die sie objektiv zu anderen Klassen der Gesellschaft unterhält; eine Reihe ihrer Eigenschaften verdankt sie nämlich dem Umstand, daß die Individuen, die diese Klasse bilden, absichtlich oder ohne es zu merken in symbolische Beziehungen zueinander treten.“ (Zitat aus dem Buch „Soziologie der symbolischen Formen“ P. Bourdieu)

Der Vortrag „Prekarität – wo stehen wir im Jahr 2016?“ von Prof. Franz Schultheiss aus St. Gallen über Pierre Bourdieu zeigt wie vielfältig Armut sein kann und welche Faktoren dazu notwendig sind. Armut und Prekarität haben 2 Gesichter: zum einen materielle Grundlagen, fehlende Absicherung, soziale Isolation um einige objektive Faktoren aufzuzeigen. Zum anderen spielen auch subjektive Sichtweisen wie z. B. mangelnde Anerkennung oder das eigene Schicksal eine Rolle.

Dadurch entsteht ein Teufelskreis der Prekarisierung den man auch als Prozess sehen kann: Disqualifizierung der Arbeit führt in die prekäre Arbeit, langfristig kann Arbeitslosigkeit entstehen. Dadurch verringert sich die Kaufkraft des Einzelnen, man verschuldet sich was wiederum in soziale Isolation führen kann. Diese Faktoren führen zu schlechteren Wohnbedingungen (man kann sich keine teure Miete mehr leisten). Langfristig wird man krank und (möglicherweise) unfähig wieder beruflich Fuß zu fassen um sich eine Zukunft aufzubauen. Alle diese Faktoren verstärken sich immer mehr und greifen ineinander.

Hinzu kommt der neue Geist des Arbeitnehmers, so wie es der Unternehmer sieht. Er will marktfähige Arbeitnehmer haben die flexibel und überall sofort einsetzbar sind. Dieser neue Geist des Arbeitnehmers ist im Grunde genommen als Umbau der Gesellschaft zu verstehen.

Es soll jeder ein Recht auf Arbeit haben, aber das Projekt Employability steht dem entgegen: Jeder Mensch der keine Arbeit hat soll sich selbst an die Nase fassen und hinterfragen warum er nicht arbeitet.

Hier kommen auch die vielfältigen Facetten des aktuellen Arbeitsmarktes hinzu:

  • Verknappung der Arbeit und wachsende Konkurrenz (aus 1 Arbeitsplatz werden 2 gemacht)
  • zunehmende Spaltung zwischen drinnen und draußen
  • Normalisierung der atypischen Arbeit
  • Bastel-Erwerbsarbeit und unterbrochene Erwerbsbiografien
  • Zunahme befristeter Arbeitsverträge und Zeitarbeit
  • Zunahme von Schein-Selbstständigkeit

Nach diesem Impulsvortrag von Franz Schultheiss und einer Diskussion über die Frage „Wo stehen wir 2030?“ und ob wir es verantworten können wie unsere nachfolgenden Generationen leben kamen wir zu dem Schluss dass es eine politische Angelegenheit ist und wir langfristig dieser Entwicklung entgegensteuern sollten.

Von unseren europäischen Kooperationspartnern erfuhren wir ähnliches. Auch hier wird zunehmend die Armut und das Prekariat zementiert.

In der Schweiz begann diese Entwicklung des industriellen Proletariats bereits 1984. Zu dieser Zeit entstand eine starke Erwerbslosenbewegung. Aus dieser Bewegung wurde der Verein Allianz der Sozialapartheid in Basel gegründet, der bis heute andere Erwerbslose unterstützt.

Die Industrie entlässt seit den 1980er Jahren verstärkt Arbeitnehmer um die Arbeit zunehmend zu automatisieren. Über die Leiharbeit werden nur noch zu Spitzenzeiten Leute eingestellt. Dadurch wird der Drehtür Arbeitsvertrag – Entlassung Tür und Tor geöffnet.

In den 1990er Jahren kam es zu einer großen Krise. Viele Arbeitnehmer wurden entlassen, weil die Arbeit verlagert wurde. Davon waren viele Familien betroffen, welche von jetzt auf gleich auf der Straße standen und in die Sozialhilfe rutschten. Sozialhilfe ist in der Schweiz nur ein Darlehen und vererbbar.

Die Sozialhilfe wird in den letzten Jahren immer mehr gekürzt – vor allem im französischen Teil der Schweiz. Die prekäre Arbeit nimmt zu und die einzelnen Gruppen werden gegeneinander ausgespielt. In den Betrieben werden Festangestellte gegen atypisierte Beschäftigungsverhältnisse (Leiharbeit) ausgespielt. Damit entsteht auch Druck auf die Löhne (keiner will seinen Arbeitsplatz verlieren). In der Schweiz gibt es auch immer mehr Arbeit auf Abruf – bei Verlust dieser Arbeit gibt es von den Ämtern kein Geld, weil der Arbeitgeber diesen Arbeitnehmern nicht die Kündigung aushändigt.

Mit der Flüchtlingswelle kommt noch das außereuropäische Problem hinzu. Viele von ihnen arbeiten ohne Erlaubnis und geregeltem Aufenthalt, was zu Problemen mit der Sozialversicherung führt.

Es gibt immer mehr Wohnungsnot, weil auch in der Schweiz vor 16 Jahren der soziale Wohnungsbau abgeschafft bzw. vernachlässigt wurde. Jetzt denkt man wieder daran dies im kleinen Umfang zu ändern. Eine Wohnung kostet etwa 700 Franken und es ist schwierig eine bezahlbare Wohnung zu finden. Als Folge davon finden unter anderem Hausbesetzungen statt.

Die Allianz gegen Sozialapartheit bietet Vorträge zu Gesundheitsthemen an. Diese Vorträge, wie z. B. Natur, haben sich bewährt. Es gibt mehrere gemeinschaftliche Gärten in denen jeder etwas anbauen und relaxen kann.

Sankt Precarius: Die Armutsbevölkerung in der Schweiz versuchen durch bildliche Darstellungen ihre Hoffnung auf ein besseres Leben nicht zu verlieren.

Er manifestiert sich in Supermärkten und Nobelrestaurants, erscheint den Gläubigen in öffentlichen Verkehrsmitteln und leerstehenden Mietshäusern. Er prophezeit die Speisung der Armen, kostenlose Personenbeförderung und billigen Wohnraum für alle: San Precario erobert die Herzen. Der Hl. Precarius (von italienisch precario gleich vorläufig und ohne Garantie), der Märtyrer der Flexibilität, ist zum Schutzpatron aller Menschen ohne soziale Sicherheiten erhoben worden. Arbeitslose verehren ihn ebenso wie befristet Eingestellte, Billigentlohnte, werdende Mütter, Wohnungssuchende und Asylbewerber.

Die Vorarlberger Kooperationspartner (Armutskonferenz Vorarlberg aus Bregenz) stellten die Ergebnisse einer Studie vor über „Bettelnde Notreisende in Vorarlberg“. Unter bettelnden Notreisenden versteht man EU-Bürger die durch Europa reisen. Die Studie untersuchte in erster Linie zwei Fragen: „Wie viel Personen betteln? Wie gestaltet sich deren Lebenswelt?“

Man stellte fest dass die Anzahl der Notreisenden (vorwiegend Roma aus Rumänien) starken Schwankungen ausgesetzt ist. Im Durchschnitt wurden gleichzeitig 100 bettelnde Personen angetroffen wobei ca. 200 Personen in Vorarlberg anwesend waren. Die Gruppe ist vorwiegend männlich und unter 25 Jahren.

Die Mehrheit gehört den traditionellen Roma an. Es gibt innerhalb der Gruppen ein großes Abgrenzungsbedürfnis zu ungarischen Roma und anderen Rumänen.

Viele dieser Menschen haben kaum bis keinerlei Schulbildung und werden sehr früh verheiratet. In den Wohnungen, sofern überhaupt vorhanden, leben die Familien mit 10 und mehr Menschen auf engstem Raum. In den 20 qm großen Raum gibt es zwar Strom, aber nicht alle haben Wasser und eine Kanalisation ist überhaupt nicht vorhanden.

Viele kommen von Italien nach Österreich oder Deutschland um ihre Kinder in Rumänien zu ernähren. Sie leben überwiegend vom Sammeln und dem Verkauf von Metall und anderen lohnenswerten verwertbaren Materialien. Sie sind starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen ausgesetzt, weil sie kaum medizinische Kenntnisse haben und nicht krankenversichert sind.

Der Verein Romano Centro hat am 26. November 2015 den zweiten Bericht zu Antiziganismus in Österreich präsentiert. Darin sind Vorfälle der letzten zwei Jahre gegen Menschen, die als „Zigeuner“ wahrgenommen worden sind, dokumentiert.

„Antiziganismus ist extrem weit verbreitet, wird aber kaum als Form von Rassismus wahrgenommen“, sagte Geschäftsführerin Andrea Härle bei einer Pressekonferenz.

Kern des stereotypen Bilds ist die Vorstellung, dass „Zigeuner“ nicht zivilisiert sind und sich deshalb nicht in die Gesellschaft integrieren wollen. Zu den Vorurteilen gehören Heimatlosigkeit und Nomadentum, parasitäre Lebensweise wie Betteln und Sozialmissbrauch sowie Disziplinlosigkeit.

Als aktuelles Beispiel dafür nannte Härle die Aussendung der Bürgermeister der fünf Vorarlberger Städte, die keine Zeltlager von Roma-Familien dulden wollen. In dieser seien alle Stereotype, von mangelnder Disziplin und Hygiene zu parasitärer Lebensweise, aufgezählt. „Durch diese Art von Sprachpolitik wird die Verantwortung für die Armut dieser Menschen ihnen selbst und ihrer Kultur zugeschoben“, so Härle. Sie diene als Rechtfertigung dafür, dass man den Betroffenen nicht hilft.

Der Bericht dokumentiert eine Auswahl von Fällen aus den Bereichen Politik, Medien, Arbeitsplatz, Internet und Bildung der Jahre 2013 bis 2015. Eine allgemeine Aussage darüber, ob die Diskriminierung mehr oder weniger geworden ist, lasse sich daraus nicht ableiten, aber „es zeigt sich, dass es tagtäglich Antiziganismus gibt“, sagte der Redakteur des Berichts, Ferdinand Koller. „Es passiert leider immer wieder, dass die Polizei die erlebte Diskriminierung verharmlost und sich weigert, Anzeigen gegen die Täter aufzunehmen.“ Im Bereich Politik falle besonders die FPÖ negativ auf, aber auch die ÖVP betreibe – etwa im Wahlkampf in Salzburg 2014 oder aktuell in Vorarlberg – antiziganistische Politik.

„Diese politischen und medialen Debatten führen zu Angst und Verunsicherung in der Bevölkerung und bergen deshalb ein Gefahrenpotenzial“, warnte Koller. Immer wieder komme es in zeitlicher Nähe dazu zu gewalttätigen Übergriffen und Diskriminierung. So versuchten etwa Anfang November in Vorarlberg zwei Männer, die sich als Polizisten ausgaben, Zelte von obdachlosen Familien in Brand zu stecken.

Unsere Freunde vom Maison Citoyennette Mondiale aus Mulhouse in Frankreich stellten fest, dass die Situation der Armut in Europa miserabel ist. Sie stellten die Frage „Was können wir gemeinsam tun um die Situation zu verbessern?“

Auch in Frankreich gibt es rund 200000 Obdachlose, welche von der Politik nicht wahrgenommen wurden. Wohnungsloseneinrichtungen wollen auch nicht helfen. Das Wort „Wohltätigkeit“ klingt auf den ersten Blick sehr schön, aber es gibt kaum noch Solidarität. Denn das Elend ist profitabel.

Wer in Frankreich seine Arbeit verliert, verliert auch seine Rechte  und vielfach seine Wohnung. Ohne Arbeit gibt es keine Wohnung; ohne Wohnung keine Arbeit.

4 Millionen Menschen leben in schlechten Wohnverhältnissen. Gleichzeitig gibt es 2,6 Millionen leerstehende Wohnungen.

Zum Abschluss des Tages referierte Jendrik Scholz vom Landes-DGB Baden-Württemberg. Als Thema nahm er „Prekarität & Austerität in einem reichen Land am Beispiel Baden-Württemberg“. In diesem Vortrag stellte er die Rente dem Arbeitslohn eines Erwerbstätigen gegenüber und kam zu dem Schluss dass die Renten immer mehr sinken.

Schuld daran sind die seit Beginn der 1980 Jahre zunehmende Praxis der prekären Beschäftigung, Teilzeitarbeit, welche überwiegend von Frauen ausgeübt wird, und andere Faktoren des Arbeitsmarktes. All dies führt zunehmend in die Altersarmut, die bereits heute zu spüren ist. In den letzten Jahren sank die Rente eines erwerbstätigen Mannes von einer Durchschnittsrente von etwa 1000 Euro im Jahr 2014 um rund 300 Euro.

https://www.uni-due.de/imperia/md/content/nestvogel/04bourdieu.pdf

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