Berliner Erklärung gegen Wohnungsnot
Wohnen ist ein Menschenrecht – Solidarität statt Konkurrenz
Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung… So lautet Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Von der Verwirklichung des Menschenrechts auf Wohnen sind wir in Deutschland noch weit entfernt.
335000 Menschen in Deutschland sind ohne Wohnung – so viele wie seit über zehn Jahren nicht mehr. Fast 40000 von ihnen leben ohne jede Unterkunft auf der Straße. Diese Zahlen sind in den letzten Jahren massiv angestiegen. Bis zum Jahr 2018 ist mit mehr als einer halben Million wohnungsloser Menschen zu rechnen.
Es fehlen bezahlbare Wohnungen für wohnungslose und für andere einkommensarme Haushalte, für Alleinerziehende, für Studierende und viele andere. Auch die Flüchtlinge und EU-Zuwanderer, die Schutz, Arbeit und Auskommen in Deutschland suchen, sind auf bezahlbare Wohnungen angewiesen.
Die Krise auf den Wohnungsmärkten ist hausgemacht und Ergebnis politischer Verantwortungslosigkeit und Fahrlässigkeit. Zuwanderung wirkt zwar verstärkend, die wesentlichen Ursachen liegen jedoch in einer seit Jahrzehnten verfehlten Wohnungspolitik in Deutschland, in Verbindung mit der unzureichenden Armutsbekämpfung und den Fehlern im Hartz IV System.
• Schon seit 2008 nimmt die Zahl der wohnungslosen und der von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen wieder deutlich zu.
• Anstelle einer sozialen Wohnungspolitik wird die Wohnung als Ware begriffen und dem freien Spiel des Marktes überantwortet.
• Die Sozialbindungen sind ausgelaufen, aber es ist nicht mit dem Neubau von Sozialwohnungen gegengesteuert worden.
• Kommunen, Länder und der Bund haben ihre eigenen Wohnungsbestände meistbietend an private Investoren verkauft und sich so selbst geeigneter Reserven preiswerten Wohnraums beraubt.
• Große Wohnungsbestände in attraktiven Lagen stehen durch Verdrängungsprozesse (Gentrifizierung) Mieterhaushalten mit geringem Einkommen nicht mehr zur Verfügung.
• Noch immer gibt es in den Kommunen und Landkreisen zu wenige Fachstellen, um Wohnungsverluste zu verhindern.
• Zugleich hat sich die Armut verfestigt, u. a. durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors und der atypischen Beschäftigung, Armut trotz Arbeit ist für viele Menschen Realität.
• Der ALG II Regelsatz reicht nicht aus für ein menschenwürdiges Leben in der Gesellschaft. Die Hartz IV Mietobergrenzen sind in vielen Kommunen zu knapp bemessen. Die Menschen geraten in eine Verschuldungsspirale, an deren Ende der Wohnungsverlust droht, wenn auch die Miete nicht mehr bezahlt werden kann. Wer erst einmal Miet-, Energie- oder andere Schulden hat, die er nicht mehr bedienen kann, ist nahezu chancenlos auf dem heutigen Wohnungsmarkt.
Einer immer größeren Zahl Wohnungssuchender mit geringem Einkommen steht somit ein ständig schrumpfendes Angebot an bezahlbarem Wohnraum zur Verfügung.
Die zunehmende Konkurrenz auf den Wohnungsmärkten ist offensichtlich und war vorhersehbar. Die Zuwanderung hat die Krise auf den Wohnungsmärkten nicht ausgelöst, sondern wirkt dabei wie ein Katalysator und führt Politik und Öffentlichkeit das Ausmaß der Wohnungsnot vor Augen.
Wir fordern daher:
Der Bund muss wieder Verantwortung für die Wohnungspolitik übernehmen! Wir fordern einen Wohnungsgipfel, der einen Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit und zur Versorgung von wohnungslosen und einkommensarmen Haushalten mit eigenem Wohnraum auf den Weg bringt.
Wohnungspolitik muss als Daseinsversorgung verstanden werden! Die Versorgung mit Wohnungen darf nicht dem freien Spiel des (Kapital-)Marktgeschehens überlassen werden: Die Bundes- und Landesmittel für den Sozialen Wohnungsbau müssen deshalb über Jahre drastisch erhöht werden, um den Fehlbestand an preisgünstigen Wohnungen ausgleichen zu können. Pro Jahr müssen mindestens 150000 preiswerte Wohnungen und Wohnungen im Sozialen Wohnungsbau gebaut werden.
Wir wissen: Der Bau von preiswertem Wohnraum ist zwar Voraussetzung für die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit, aber nicht ausreichend. Wir fordern deshalb die Kommunen auf, Belegungsquoten für wohnungslose Haushalte einzuführen und andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass wohnungslose Haushalte mit eigenen Wohnungen versorgt werden.
Wir fordern die Kommunen auf, die Prävention von Wohnungsverlusten gezielt zu betreiben, u. a. durch den Auf- und Ausbau von Zentralen Fachstellen zur Vermeidung von Wohnungsverlusten. Förderprogramme des Bundes und der Bundesländer sollten diese Anstrengungen unterstützen.
Die Landesregierungen und die Bundesregierung sind gefordert, umgehend landes- und bundesweite Wohnungsnotfallstatistiken einzuführen.
Weil wohnungslose Menschen keine Chancen mehr auf dem Wohnungsmarkt haben, sitzen sie in oft menschenunwürdigen Notunterkünften fest. Insbesondere wohnungslose Frauen und junge Wohnungslose leben häufig in prekären Mietwohnverhältnissen in denen sie mitunter besonders gefährdet sind.
Eine Notunterkunft ist keine Wohnung! Eine Notunterkunft ist kein Zuhause! Dem Leben in der Notunterkunft fehlen Privatsphäre, Schutz und Geborgenheit. Sanitäre Anlagen sind häufig unzumutbar. Frauen müssen sexualisierte Gewalt fürchten.
Jetzt rächt es sich, dass es viele Kommunen in der Vergangenheit versäumt haben, die dort lebenden Menschen mit eigenem mietvertraglich gesichertem Wohnraum zu versorgen.
Wir fürchten, dass unter dem gegenwärtigen Unterbringungsdruck, menschenwürdige Unterbringungsstandards immer weniger beachtet werden.
Die oben genannten Bedingungen in Sammel- und Massenunterkünften gelten auch für Flüchtlinge. Diese Menschen die oft durch Krieg und Flucht traumatisiert sind, werden dadurch weiter belastet. Nicht nur, aber insbesondere leiden allein geflohene Frauen und Minderjährige unter diesen Bedingungen.
Deswegen fordern wir:
Für alle Menschen ohne Wohnung eine menschenwürdige Unterbringung, in der die Gesundheit nicht gefährdet ist, die Privatsphäre ermöglicht und die durch entsprechende Unterstützung dazu beiträgt, die Menschen in eigene Wohnungen zu vermitteln.
Der Winter steht vor der Tür: Jede Gemeinde ist verpflichtet, die für die Unterbringung von obdachlosen Menschen notwendigen Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit steht jedem Menschen – unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit und seinem Aufenthaltsstatus zu. Deswegen müssen die Kommunen auch Sorge tragen, dass die größer werdende Gruppe wohnungsloser EU-Migrantinnen und Migranten Zugang zu menschenwürdigem Erfrierungsschutz erhält.
Nach eigenem Bekunden stoßen die Kommunen bei diesen Aufgaben an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Deswegen muss der Bund die Kommunen zur Bewältigung dieser Aufgaben finanziell massiv unterstützen.
Ein großer Teil der wohnungslosen Menschen ist aus der medizinischen Regelversorgung ausgegliedert. Wohnungslose Menschen wären gänzlich von der medizinischen Versorgung abgehängt, gäbe es nicht in etlichen (Groß)Städten Projekte zur niedrigschwelligen medizinischen Versorgung Wohnungsloser. Diese Projekte sind überwiegend unsicher finanziert, leben von Spenden und Ehrenamtlichkeit. Seit Jahren sind aber auch immer mehr Zuwanderer, insbesondere bei der medizinischen Versorgung und anderen existentiellen Hilfebedarfen auf die Infrastruktur der Wohnungslosenhilfe – als dem letzten sozialen Netz – angewiesen. Diese medizinische Unterversorgung wird von der Politik seit Jahren billigend in Kauf genommen.
Wir fordern daher die Gesundheitskarte für Wohnungslose und Flüchtlinge, damit sie unbürokratisch und zeitnah medizinisch versorgt werden können. Und wir fordern die nachhaltige Absicherung der medizinischen Versorgungsprojekte. Damit das Recht auf gesundheitliche Versorgung eine Chance hat.
Fehlende bezahlbare Wohnungen, unzureichende Unterbringungskapazitäten, die mangelhafte medizinische Versorgung – all dies bildet eine Gemengelage, in der sich rechtspopulistische und rechtsextreme Gruppierungen, Strömungen und Parteien versuchen zu profilieren. Sie instrumentalisieren die Not Wohnungsloser – die sie ansonsten als „Asoziale und Penner“ beschimpfen, demütigen, verprügeln und auch totschlagen – für ihre rassistischen und demokratiefeindlichen Parolen.
Diesen unerträglichen rechten Parolen werden wir als Wohnungslosenhilfe entschieden entgegentreten. Dazu suchen wir den Schulterschluss mit Flüchtlingshilfen und Organisationen der Migranten und Migrantinnen.
Solidarität statt Konkurrenz! Wohnen ist ein Menschenrecht
Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe, November 2015 www.bawo.at